Es ist der letzte Tag des Neandertaler-Kongresses. Die Bonner Luft ist schwül an diesem Morgen im Juli, und in der Pause braucht Jean-Jacques Hublin trotz der Hitze einen Kaffee. Doch da steht im Gedränge sein Kollege Ian Tattersall, gut 1,90 Meter groß, und blockiert den Ausschank. »Guten Morgen, bin ich im Weg?«, ruft er, schlägt dem untersetzten Franzosen die Hand auf die Schulter und lacht. »Weißt du, Jean-Jacques, ich steh dir doch schon seit Jahren im Weg.« Die Umrisse von Menschenhänden in der Grotte Cosquer bei Marseille - ein frühes Zeugnis des symbolisch denkenden Geistes BILD

So sehen Freundschaften unter Paläoanthropologen aus – ein seltenes Phänomen in der Gilde der Urmenschenforscher. Häufiger fliegen die Fetzen. Die Konkurrenz um »Claims«, die Grabungslizenzen, ist erbarmungslos. Auch beim Streit um Interpretation, Zuordnung und Datierung von Fossilien und Steinwerkzeugen pflegt die Zunft gern die schärfste Tonart. Und was Hublin, Tattersall und all die anderen Koryphäen der Szene beim Bonner Kongress 150 Years of Neanderthal Discoveries an diesem Morgen zu hören bekommen hatten, versetzte die traditionell streitlustige Meute erst recht in Aufruhr.

Da hatte der Paläogenetiker Svante Pääbo, wie Hublin Abteilungsdirektor am Leipziger Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie (Eva), den Delegierten klar gemacht, dass er die drängendsten Fragen der Zunft nun zu lösen gedenke – mittels der Genforschung. Sein Team, so verkündete Pääbo, werde das gesamte Erbgut des Neandertalers entschlüsseln. In nur 24 Monaten soll die komplette Genausstattung des vor rund 30000 Jahren ausgestorbenen Cousins der Menschheit vorliegen – ein Vorhaben, das alle Experten, allen voran Pääbo selbst, noch vor wenigen Jahren als undurchführbar abgetan hatten.

Doch was damals wie Traumtänzerei anmutete, ist heute, angesichts der rasanten Leistungssteigerung der Genlesetechnologien, durchaus realistisch, zumindest im Prinzip. Aus herausgesägten Blöckchen fossiler Knochen und Zähne wollen die Eva-Forscher die längst zerbröselten Reste der Neandertaler-Gene herausfischen. Wissenschaftler der US-Firma 454 Life Sciences sollen die kleinen, höchstens 100 Bausteine umfassenden Genfragmente entziffern. Danach müssen die einzelnen Puzzlestücke zum drei Milliarden Bausteine umfassenden Steinzeitler-Genom zusammengesetzt werden. Als Vorlage wird das Erbgut seiner überlebenden Verwandten dienen: das menschliche Genom und das des Schimpansen.

Seit der kühne Plan der Max-Planck-Wissenschaftler durchsickerte, debattiert die Fachwelt das Für und Wider des Vorhabens. Zwar wäre die Rekonstruktion aller Erbanlagen des ausgestorbenen Vormenschen ohne Zweifel als wissenschaftliche Glanztat zu werten. Doch in Wahrheit geht es um weit mehr. Pääbos Fahndung zielt ins Herz der Anthropologie, auf eine Grundfrage aller Forschung und der Philosophie – und auf den Nobelpreis. Er will das Rätsel Homo sapiens entschlüsseln.

Ein geheimnisvoller Schachzug der Evolution sorgte vor 200000 Jahren für den Auftritt des Menschen. Ein »mysteriöses Tier«, schrieb der Anthropologe Tattersall in Becoming Human , »tief verwurzelt in der Biologie, doch scharf davon getrennt durch seine kognitive Macht«. Irgendwann zu dieser Zeit muss sich im Erbgut dieses Wesens ein Umbau mit dramatischen Folgen vollzogen haben, die Netzwerke seiner Gene folgten plötzlich einem neuen Muster. Sie müssen die biologische Essenz des modernen Menschen enthalten, die Grundlage für seinen symbolisch denkenden Verstand, seine Fähigkeit zu komplexer Sprache, zu Technologie, Kunst und Krieg. Doch welche Umbauten im Regelwerk der Gene bewirkten den Weitsprung des Geistes?

Die Antwort sucht Pääbos Paläotruppe nun im Vergleich mit den Erbmolekülen der Neandertaler. Von Anfang an stand der Ureuropäer im Zentrum der Debatte um das Rätsel Mensch. Mit dem Fossilienfund im Neandertal bei Düsseldorf begann nicht nur die Erforschung der europäischen Vormenschen. Die Entdeckung von 1856 war zugleich die Geburtsstunde der Paläoanthropologie, der Startschuss für die Erkundung der Evolution des Menschen und seiner Vorfahren.