Die Wiederentdeckung der Vesuvstädte

Die frühen Ausgrabungen in Pompeji und Herculaneum

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»Die Kraft des Königs hat die Stadt Herculaneum dem Rachen des Vesuvs entrissen.«
(Übersetzung: Helke Kammerer-Grothaus)

Diese plastischen, ursprünglich in Latein verfassten Worte begrüßten die Besucher bei ihrem Eintritt in das Herculanense Museum. Als Teil des Palazzo Reale in Portici beherbergte es ab 1758 die Funde der unter königlicher Leitung stehenden Ausgrabungen in Herculaneum und Pompeji. Laut Johann Wolfgang von Goethe stellte es »das ? und ? aller Antiquitäten-Sammlungen« dar.

Dem Faszinosum der untergegangenen Städte am Golf von Neapel, das bis heute nachwirkt, unterlagen bereits die Förderer und Ausgräber der ersten Stunde. Das Potential der unter der Erde schlummernden Schätze wurde jedoch nicht auf Anhieb erkannt. Bereits Ende des 16. Jh. stieß der königliche Architekt Domenico Fontana bei Arbeiten an einem Kanal vom Fluss Sarno nach Torre Annunziata auf Gebäudestrukturen, Wandmalereien und zwei Inschriften im Gebiet von Pompeji. Diese Funde regten aber noch nicht weiterführende Untersuchungen an. Als folgenreicher erwies sich die Bergung von Skulpturen aus einem Brunnenschacht auf dem Gebiet von Herculaneum. Auf Hinweis eines Bauern ließ der österreichische General Emanuel Moritz von Lothringen, Prinz d´Elboeuf, an dieser Stelle gezielt nach Antiken suchen. Die hier geborgenen Statuen schmückten ursprünglich die scaenae frons des herculanesischen Theaters. 1738 entschloss sich schließlich Karl III., König von Neapel und Sizilien, an diesem Ort offizielle Grabungen durchzuführen. Erst zehn Jahre später begannen auch die Arbeiten in Pompeji (s. Abb. 1).

Die frühen Untersuchungen – gemäß der Forderung des Königs – waren geprägt von der gezielten Suche nach Skulpturen, Wandmalereien und anderen Kunstdenkmälern. So wurden die ersten freigelegten Gebäude in Pompeji – die Prädia di Iulia Felix und die Villa di Cicerone – nach der Bergung der Skulpturen und Wandmalereien sogar wieder verschüttet. Erst nach dem königlichen Verbot der Zuschüttung konnten der Bereich des Großen Theaters, der Isistempel und ein kleines Areal um das Herkulaner Tor besichtigt werden (s. Abb. 2). Dadurch war ein Besuch der Ruinen bei Tageslicht möglich. In der Nachbarstadt Herculaneum musste man hingegen im Fackelschein in unterirdischen Gängen zum Theater der Stadt hinabsteigen. Eindrucksvoll schildert der hochrangige, französische Jurist Charles de Brosses seinen Besuch dieses Ortes im Jahr 1739:

»Man fährt heute in die Stadt ein vermittelst einer Seilfahrt durch einen zwölf bis dreizehn Klafter tiefen Schacht, wie in ein Bergwerk [...] Von der Tiefe dieses Schachts sind, wie ich feststellte, nach verschiedenen Seiten unterirdische Stollen gezogen, schief und krumm und stellenweise schon wieder verschüttet, weil man manchmal den Schutt, der beim neuen Stollen ausgegraben wurde, einfach in den alten hineinwarf [...] Sehr Ersprießliches wird man nie leisten, solange man die Arbeiten auf die Art fortsetzt.«

Des Präsidenten de Brosses Vertrauliche Briefe aus Italien an seine Freunde in Dijon 1739–1740,
übersetzt von W. Schwartzkopff, Bd. I (1918) S. 333–340.

Die ersten 'Touristen'

Die Ruinen der antiken Städte gehörten neben dem Vesuvaufstieg sehr bald zum festen Programm adliger Reisegesellschaften auf ihrer Grand Tour in Kampanien. Von der großen Beliebtheit eines Besuchs in Pompeji zeugt die Taverna del Rapillo. Das Wirtshaus Zum Bimsstein nahe den Ausgrabungen entwickelte sich schnell zur beliebten Anlaufstelle, um zu rasten und sich zu stärken.

Auf großes Unverständnis bei den Zeitgenossen stieß immer wieder das Dokumentationsverbot. So war es Außenstehenden während ihres Besuchs nicht gestattet, Zeichnungen der Architektur und der Funde anzufertigen. Das exklusive Recht des Besitzes, des Wissens sowie der Publikation der Ausgrabungen und Funde lag ausschließlich beim König Neapels und Beider Sizilien: Es wurde zur Mehrung des Prestige der jungen bourbonischen Dynastie eingesetzt.

Die Veröffentlichung oblag der Reale Accademia Ercolanese di Archeologia, die ab 1757 die Antichità di Ercolano esposte herausgab. Diese Publikation war ausschließlich als Geschenk des Königs erhältlich und daher zunächst nur einem kleinen Kreis zugänglich. Jedoch erwies sich die Taktik der Geheimhaltung als mäßig erfolgreich. Bald erschienen neben Zeitungsmeldungen und Reisebeschreibungen erste unauthorisierte Veröffentlichungen. Bereits 1748 publizierte der in Ungnade gefallene ehemalige Kustos der königlichen Antikensammlung, der Marchese Marcello Venuti, seine Descrizione delle prime scoperte dell´antica città d´Ercolano.

Die starke Reglementierung der Dokumentation erklärt auch, warum von dem Architekten Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff – sonst ein fleißiger Zeichner – keine Skizzen von Pompeji und Herculaneum existieren (s. Abb. 3). Von seinem Besuch haben sich nur Tagebucheinträge erhalten. Erdmannsdorff war Mitglied der Reisegesellschaft um den Fürsten Leopold III. Friedrich Franz von Anhalt Dessau, die bereits im März 1766 im Rahmen ihrer Grand Tour die Vesuvstädte besuchte. Nach einem mehr als zwei Monate dauernden Aufenthalt, den sie unter der Führung von Johann Joachim Winckelmann verbrachten, kamen sie nach Neapel.

Pompeji und Herculaneum nördlich der Alpen

So scheinen die unmittelbaren Zeugnisse der Grand Tour des Fürsten am Golf von Neapel gering. Ihre Folgen sind jedoch umso größer. Im seinem Gartenreich Dessau-Wörlitz finden sich viele Reminiszenzen der Begeisterung für die neuen Entdeckungen in Kampanien. Vor allem in der Raum- und Fassadenausstattung der frühen klassizistischen Bauten erkennt man die starke Beeinflussung durch die Motive aus den Vesuvstädten, die dem Fürsten und seinem Architekten von Erdmannsdorff als Inspirationsquelle dienten (s. Abb. 4). Entscheidend für die Übernahme der antiken Motive waren die Abbildungen dergleichen in den Antichità di Ercolano esposte.

Die ersten vier Bände mit den Wandmalereien wurden dem Fürsten nachweislich von dem britischen Botschafter Sir William Hamilton zugesandt, der ihm seine Gastfreundschaft während des Aufenthalts in Neapel gewährte. Zahlreiche Wand- und Deckmalereien in Wörlitz gehen auf die Tafeln der Publikation zurück. So sind gleich mehrfach die schwebenden Tänzerinnen belegt. Diese zwölf zu einem Zyklus gehörenden Figuren stammten ursprünglich aus der pompejanischen Villa di Cicerone. Sie waren als Vorlage äußerst beliebt – nicht zuletzt aufgrund ihrer leichten, eng anliegenden Gewänder. Die zeichnerische Umsetzung der Tänzerinnen kann man im Wörlitzer Schloss sowie in der Villa Hamilton bewundern (s. Abb. 5a+b).

Die Zeugnisse im Gartenreich zeigen einen Ausschnitt davon, welchen großen Einfluss die Ausgrabungen der Vesuvstädte im 18. Jh. auf die zeitgenössische Architektur, Kunst, Mode und Kunsthandwerk hatten. Da die Tafelbände der Antichità den einzigen visuellen Orientierungspunkt für die kampanischen Entdeckungen darstellten, waren sie rasch innerhalb und außerhalb Italiens begehrt. Ihre Verbreitung blieb jedoch am Anfang auf einen kleinen Kreis in der europäischen Oberschicht beschränkt, da man die Publikation nur durch die königliche Schenkung erhalten konnte.

Bereits 1767 bat der neapolitanische Gesandte Ferdinando Galiani in Paris den Minister Bernardo Tanucci um die Unterstützung der Veröffentlichung der Antichità auf Englisch und Französisch. Galiani bemerkte:

»[...] Alle Goldschmiede, Schmuckwarenhändler, Maler von Kutschen und Sopraporten, Tapezierer und Ornamentkünstler brauchen dieses Buch [...] Es gibt keine Bronzen, Schnitzereien und Malereien ohne Kopien aus Ercolano mehr. Das Bild einer Frau, die Amoretten als Hühner verkauft, sah ich in mehr als zehn Kopien. So können Sie, Eure Excellenz, den Nutzen eines Nachdrucks von Ercolano erkennen. [...]«

zitiert nach: Carl Justi, Winckelmann. Sein Leben, seine Werke und seine Zeitgenossen, 2. Auflage (Leipzig 1898) 358.

Die von Galiani geäußerte Empfehlung blieb zunächst ohne die gewünschten Folgen. Erst die ab den 1770er Jahren in französisch und deutsch erschienenen, verkleinerten und modifizierten Publikationen der Antichità führten schließlich zu einer enormen Verbreitung des Bildrepertoires pompejanischer und herculanesischer Motive. Man orientierte sich in der Gestaltung von Möbeln, Alltagsgegenständen und in der Innenraumdekoration an den antiken Vorbildern. Wie weit diese Durchdringung ging, soll an einem Beispiel erläutert werden.

1782 begann die königliche Porzellan-Manufaktur in Capodimonte (Neapel) ein Prachtservice herzustellen, das als diplomatisches Geschenk an den spanischen Hof Karls. III übermittelt werden sollte. Das mehrteilige Servizio Ercolanese war mit antiken Motiven aus den Vesuvstädten verziert. Neben dieser zweidimensionalen Umsetzung entstanden zu Dekorationszwecken gegen Ende des 18. Jh. in der Manufaktur verkleinerte Kopien antiker Skulpturen und Motive. Die royalen deutschen Produzenten in Berlin und Meißen nahmen die Gestaltung der antiken Vorbilder in Porzellan enthusiastisch auf. An dem sächsischen Standort schuf der Künstler Christian Gottfried Jüchtzer Plastiken nach Vorbildern in der Dresdner Antikensammlung, z.B. die bekannten Herkulanerinnen, und nach Motiven aus den Antichità. Interessant sind die Umsetzungen zweidimensionaler Wandmalereien in Rundplastiken.

1785/86 fertigte Jüchtzer die Gruppe »Wer kauft die Liebesgötter«. Diese Amorettenhändlerinnen, dargestellt in den Antichità, finden mannigfach Widerspiegelung in Kunst und Kunsthandwerk (s. Abb. 6). 1759 legte man die Wandmalerei in Gragnano, dem ehemaligen Stabiae, frei und bereits 1762 erschien der Stich im dritten Band der Grabungspublikation.

Nur ein Jahr später hing ein Gemälde mit den Amorettenhändlerinnen von Joseph-Marie Vien in einem Pariser Salon. Als Vorlage diente ihm die Abbildung in den Antichità. Das Motiv erscheint im Anschluss in der Malerei, Plastik, Kleinkunst, Raumausstattung und in der Dichtkunst. Auch im Gartenreich in Wörlitz ist es mehrfach belegt (Abb. 6b). Anhand der Verbreitung dieser Darstellung ist eindrücklich erkennbar, wie nachhaltig die Wiederentdeckung der Städte am Vesuv die Kultur und die Kunst des 18. Jh. nördlich der Alpen beeinflusst hat.

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  • Friedrich-Wilhelm von Hase
    Die Wiederentdeckung von Herculaneum - Pompeji und Johann Joachim Winckelmann,
    in: Harald Meller und Jens-Arne ­Dickmann (Hrsg.), Pompeji – Nola – Herculaneum – Katastrophen am Vesuv (München 2011) 328-335.
  • Attilio Brilli
    Als Reisen eine Kunst war. Vom Beginn des modernen Tourismus. Die Grand Tour (Berlin 1997).
  • Kulturstiftung DessauWörlitz (Hrsg.)
    Unendlich schön. Das Gartenreich Dessau-Wörlitz (Berlin 2005).
  • Ralf-Torsten Speler (Hrsg.)
    Friedrich Wilhelm von Erdmannsdorff, Kunsthistorisches Journal einer fürstlichen Bildungsreise nach Italien 1765 / 66 (München 2001).

Weiterführende Links

Sie finden im Bereich Themen / Pompeji - Nola - Herculaneum in unserem Guide eine Zusammenstellung mehrere Links zum Thema.

Medien-Tipps

Weitere Buchtipps finden Sie in der Rubrik »Pompeji – Nola – Herculaneum« in der Bibliothek.