Kretas Bergminoer bauten weder Paläste noch Festungen - aber für die Ewigkeit

veröffentlicht am
ForschungGriechenlandBronzezeitSiedlungGesellschaft

In den Bergen Nordostkretas oberhalb der Stadt Agios Nikolaos liegen über 300 ländliche massive Steinbauten in einer ungewöhnlich offenen Siedlungs-Struktur. Die Stätten waren, anders als die kretischen Paläste, erdbebensicher gebaut. Der Pionier der minoischen Archäologie, Sir Arthur Evans, hielt das Wenige was er davon 1894 sah für Verteidigungsmauern.

In der Nähe wurden keine Hinweise auf feudale Gebäude gefunden. Nur ausgeprägte Spuren offensichtlich hierarchieloser landwirtschaftlicher Nutzung.

Wer waren die kretischen Bergminoer?

Die Berge oberhalb von Agios Nikolaos liegen jenseits und weitab aller bekannten minoischen Paläste Kretas, waren aber in der mittleren Bronzezeit (ca. 2000-1650 v.Chr.) als Siedlungsgebiet durchaus ernstzunehmen. Es gibt aus dieser Zeit auf der ganzen Insel fast keine vergleichbar gut erhaltenen Siedlungsspuren, auch die hier vorgestellten wurden erst in den letzten Jahren im Laufe der Forschungen der Autorin entdeckt. Die einzelnen minoischen Gebäude sind klar getrennt, selten mehr als 300 m voneinander entfernt und untereinander durch ein Netzwerk von Pfaden verbunden. Sie wurden auf Fundamenten aus massiven, unbearbeiteten Steinblöcken errichtet, von denen heute noch oft meterhohe Ruinen zu sehen sind.

Im Umfeld sind die Überreste langer Umfassungsmauern sichtbar, die jeder Wohneinheit ein meist felsreiches, mit kleinen landwirtschaftlich nutzbaren Flächen durchsetztes Gelände unterschiedlicher Größe zuordneten. Bauweise und Lage zeigen klar, dass diese Umfassungsmauern zu den minoischen Häusern gehörten.

Die Bergminoer von Agios Nikolaos in Zahlen:
Zeit: 2000-1650 vor Christus (minoische Altpalastzeit, mittlere Bronzezeit)
Gebiet: ca. 30 km2 Berghänge über 600 m süd-westlich von Agios Nikolaos
Funde: 336 minoische Stätten, mit
- über 150 km Umfriedungsmauern, die jeweils Areale von durchschnittlich 3,5 ha umschließen
- über 100 km (oft mauergesäumte) Wege
- mehr als 50 der Ruinen sind z.T. 1,5 m und höher erhalten

Die Baumasse dieser Mauern – ursprünglich über 200 000 Kubikmeter - zusammengelegt ergäbe ein Gebäude von 100x100 m Fläche und 65 m Höhe, – so groß wie die ägyptische Pyramide des Mykerinos (ca.103 m im Quadrat und 65,5 m). Die Grundfläche aller Häuser dürfte zusammen etwas mehr als zweimal so groß gewesen sein wie die Grundfläche des Palastes von Knossos - oder fast viermal so groß wie der Palast von Malia. Wenn man für jedes Haus etwa 5 Bewohner rechnet, müssen in den Bergen von Agios Nikolaos über 1600 Menschen gewohnt und gearbeitet haben – ungefähr die heutige Einwohneranzahl des Städtchens Kritsa am Fuß derselben Hänge.

Die umgebende Landschaft an der Südostseite des Berges Katharo Tsivi (1665 m) ist von Natur aus mit lichtem Wald aus Kermes-Eichen, Zypressen und Kiefern (charakteristisch für das östliche Mittelmeer) bewachsen. Der Untergrund ist oft steil, felsig-karstig und übersät von vielen Senken und kleinen Tälern, in denen durch Terrassierung und Erosion Nischen mit guter Erde entstanden sind, die bis vor kurzem für Ackerbau genutzt wurden.

Die Region hat aufgrund ihrer Höhe und Lage ein günstiges Anbau-Jahr (das Winterhalbjahr), während an der Küste der früher beginnende, regenlose, heiße Sommer oft zu Ernteausfällen führt. Heute dient die Landschaft fast nur noch als Weide für Schafe und Ziegen und für die Aufstellung von Bienenstöcken.

Zyklopisch, megalithisch – oder wie?

Als Sir Arthur Evans im Jahr 1894 die Gegend bereiste, sah er mehrere aus massiven Steinbrocken bestehende Ruinen, die er aufgrund dieser Bauweise »megalithisch« oder »kyklopisch« nannte (so wie die mykenischen Stadtmauer-Anlagen auf dem griechischen Festland) und für militärische Einrichtungen und Teile eines bronzezeitlichen Verteidigungssystems hielt. Doch es waren Evans Vorstellungen vom harmonischen, kriegfreien Leben der Minoer, welche er einige Jahre später während der Ausgrabungen in Knossos entwickelte, die das Bild der kretischen Archäologie prägten.

Erst in den vergangenen dreißig Jahren wurden diese Friedensvisionen zusehends häufiger hinterfragt, besonders in Zusammenhang mit neuen Funden im äußersten Osten Kretas, wo ähnlich massiv gebaute Strukturen, wie die hier beschriebenen, Evans militärische Interpretationen wieder in Erinnerung brachten. Anhand der Entdeckungen der Autorin wird jetzt klar, dass Evans 1894 nur einen Bruchteil der tatsächlich vorhandenen Stätten am Tsivi sah: Er erwähnte drei, die von der von ihm berittenen Straße aus leicht zugänglich waren - die oberste in der Karte Abb. 2, zu Evans Zeiten die »Hauptstraße«, heute ein Wanderweg. Er hat also wohl Straße und Pferd bei seiner Reise kaum verlassen (s. Abb 1 und 2).

»Onkolithische« Bauweise: Anders als anderswo – und erdbebensicher!

Die mittelminoischen Ruinen mit den großen Mauerblöcken sehen den massiven Bauformen anderer Phasen zwar ähnlich, weisen aber einige sehr individuelle Züge auf. Um Verwechslungen mit dem Begriff der kyklopischen Bauweise zu vermeiden, werden die massiven Mauern der minoischen Altpalastzeit von der Autorin »onkolithisch« (von griechisch »onkolithos«, massiver Block) genannt.

Onkolithische Mauern bestehen aus grundsätzlich unbearbeiteten, der näheren Umgebung entstammenden Oberflächen-Blöcken (in seltenen Fällen könnten Ecksteine leicht bearbeitet gewesen sein). Diese Charakteristika (Abb. 3) unterscheiden die Mauern auch von denen der minoischen neueren Palastzeit, in der massives Baumaterial meist teilweise behauen war und oft kleinere Steine als Unterlage verwendet wurden.

Durch die bewusste Vermeidung gleichmäßiger Lagen des Mauerwerkes und die häufige Einbeziehung des felsigen Untergrundes, waren die Bauten viel erdbebensicherer als andere Architektur. Es ist erstaunlich, in einem Erdbebengebiet wie Kreta nach 4000 Jahren noch Mauern von oft über 2 m (in einem Fall sogar 3,5 m, Abb. 4) stehen zu sehen.

Eventuell ursprünglich existierender Putz und Mörtel ist den Ruinen nach etwa 40 Jahrhunderten zwar nicht mehr anzusehen - aber keines von beiden wäre für die Stabilität notwendig gewesen, da die Mauern durch ihre Massivität und Schwere selbsttragend waren.

Wetterfeste Bauweise – denn auch in den kretischen Bergen fällt im Winter Schnee!

Aus der Menge des Versturzmaterials lässt sich schließen, dass man die Gebäude nur in den bodennahen Bereichen onkolithisch gebaut hatte. Diese steinernen Sockel waren hangabwärts deutlich höher als hangaufwärts konstruiert. So entstand eine möglichst waagerechte Grundlage für vergängliche Oberbauten, die dem direkten Wettereinfluss entzogen waren (Abb. 5).

Rittersmann oder Knecht?

Als Ausdruck von Elite-Status wird die oft immer noch »megalithisch« genannte massive Bauweise der spätminoischen (nach 1650 v.Chr.) sogenannten »Villen«gesehen. Ursprünglich (und korrekterweise) wurde ausschließlich aus riesigen Blöcken bestehende Architektur - oft religiöser Bestimmung - als »megalithisch« bezeichnet, die nur von großen Menschengruppen errichtet werden konnte und für alle Beteiligten die Macht der Organisatoren oder ihrer Götter monumental darstellten.

Onkolithische Bauten konnten dagegen ohne Weiteres auf der Basis von kleinen Gruppen, zum Beispiel Sippen, gebaut werden, wie im heutigen Kreta die massigen steinernen Schäferbauten am Berg Ida (Abb. 6). Sie wären dann weniger ein Ausdruck von übergeordneter Macht eines großen Kollektivs als ein Ausdruck von Familien-Zusammengehörigkeit gewesen. Trotzdem hätte die geordnete, systematische Anlage so vieler Häuser und Umfriedungen wohl einer übergeordneten Obrigkeit bedurft.

Im Umfeld der Berg-Minoer findet man zwei Arten von runden Baustrukturen: Onkolithisch und eingetieft sowie überirdisch aus kleinen Steinen (als ringförmiger Sockel erhalten) errichtet.

Kreisförmige Ruinen, die man neben den minoischen Palästen in Knossos, Phaistos und Malia fand, geben Archäologen noch heute Rätsel auf. Die überirdisch konstruierten acht Kreisruinen in Malia wurden zuletzt überzeugend als Lager-Silos interpretiert, wie es auch für die runden kleinsteinigen Bauten in den Bergen wahrscheinlich ist. Die in der Erde gelagerten onkolithischen Rundbauten waren aber wohl eher Zisternen (Abb.7).

Umfassungsmauern und »Straßen«

Von Mauern begrenzte Nutzbereiche mit kleinen terrassierten Arealen oder ebenen Flächen umgaben das nähere Umfeld der Häuser in den Bergen. Je nach Größe und Bodenbeschaffenheit sind diese wohl als umfriedete Gärten, Felder oder Tierpferche zu interpretieren.

Hunderte von Metern - bis zu 2 km - lange Umfassungsmauern durchziehen auch die Landschaft der weiteren Umgebung der Wohnstätten. In einer Breite zwischen 0,7 und 1,2 m umschlossen sie unterschiedlich große Flächen (von unter 1 bis zu über 15 ha) von felsigem sowie landwirtschaftlich nutzbarem Land und sind z.T. noch erstaunlich gut erhalten (Abb. 8, zur Lage vgl. auch Karte Abb. 2). Manche wurden deshalb in den letzten 150 Jahren repariert und wieder genutzt. Je näher am Wohnhaus desto massiger und sorgfältiger waren diese Mauern gebaut. Wie eine solche Wohnstätte mit ihrer näheren Umgebung ausgesehen haben könnte zeigt Abbildung 9.

Durch die geschickte Anlage dieser Umfriedungsmauern ergaben sich dazwischen oft Pfade oder bis zu zwei Meter breite »Straßen«, welche die Wohnstätten miteinander und mit den »Ausfallstraßen« in die weitere Umgebung verbanden. Eine solche Umsicht der Planung kann man sich eigentlich nur unter der Leitung einer zentralen Autorität vorstellen. (vgl. Abb. 10 und den Beispielbereich, Karte Abb. 2). Manche der Wege sind heute noch – oder wieder - in Gebrauch.

Landnutzung der Berge: Kann man Minoer und Kreter vergleichen?

Die Region in den Bergen südwestlich von Agios Nikolaos wurde - nicht lange nach der Klima-Verschlechterung um 2200 v. Chr. mit beginnender Dürreperiode - in mittelminoischer Zeit relativ plötzlich besiedelt, nach nur wenigen Jahrhunderten aber wieder weitgehend verlassen. Siedlungsspuren der folgenden 3600 Jahre gibt es kaum. Warum? Ein Blick auf den Lauf der Geschichte mag da helfen.

Siedlungen der Spätminoer kennen wir hauptsächlich von den Küsten. Die gebirgigen Regionen wurden, wo bekannt, von zentral gelegenen Gebäudekomplexen – den oben genannten Villen – aus bewirtschaftet. In der nachminoischen Zeit scheint die Bevölkerungsdichte in Kreta viel geringer gewesen zu sein und archaische bis hellenistische Städte waren ausgeprägt zentralisiert (die hier beschriebene Region gehörte in jener Zeit zum Stadtstaat von Lato, die Stadt liegt ca. 3 km entfernt auf einem Hügel am Fuß der Berge).

In der römischen Zeit waren Siedlungen im Wesentlichen auf die Küsten und Ebenen beschränkt. Im Laufe des Mittelalters und später wüteten auf der ganzen Insel entvölkernde Seuchen und während der ottomanischen Besatzungszeit gab es aufgrund der sozialen Verhältnisse keinen Anreiz für Einheimische, mehr als nur das Nötigste auf den besten (Flachland-)Feldern ihrer türkischen Lehensherren zu erwirtschaften. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine Bewirtschaftung der Berghänge wieder interessant - durch gemischte Landwirtschaft (mit Schwerpunkt Schaf- und Ziegenhaltung).

Berg-Landwirtschaft in der Bronzezeit: Was wissen wir darüber?

Offensichtlich war es den Minoern gelungen, trotz ihrer massiven Eingriffe eine dem damaligen Klima angemessene Stabilisierung der Landschaft zu erreichen, deren ökologisches Gleichgewicht bis heute erhalten ist. Und ebenso offensichtlich hat sich das Klima seither nur so wenig verändert, dass manche dieser Strukturen nach wie vor ihren Zweck erfüllen (s. unten Abb. 11): Nach der Neu-Erschließung des Gebiets im 19. Jahrhundert wurden die bronzezeitlichen Gebäude mit nur wenig Erneuerungsarbeit wieder funktionstüchtig gemacht, wobei viele alte Mauern und Ruinen wieder genutzt wurden (s. unten Abb. 12), z.B. als Rand neuzeitlicher Dreschplätze oder integriert in Melkpferche.

Angesichts der wahrscheinlichen Ähnlichkeit des Klimas lässt sich mithilfe der Vergleichsdaten [1] heutiger Felder der Gegend errechnen, dass fast alle minoischen Gehöfte zumindest Subsistenzwirtschaft (für eine wie üblich geschätzte Familiengröße von 5 Personen) betreiben konnten. Ein beträchtlicher Überschuss war für einige der Anwesen möglich, auf deren Land die oben erwähnten erhöhten Rundbauten erkennbar sind, deren Funktion als Silos damit noch wahrscheinlicher wird. Die Gehöfte mit dem Potential zu größeren Ertragsmengen lassen dennoch weder in der Größe der Häuser noch in der Qualität der (an der Oberfläche sichtbaren) Keramik eine hierarchische Distanz zu den anderen erkennen. Trotz großer Differenzen in den möglichen Besitzverhältnissen scheint es keine wesentlichen Standesunterschiede bei den Berg-Minoern gegeben zu haben.

»Ökologischer« Land(schafts-)bau in der Bronzezeit: Ideen mit Vorbildfunktion

Die kretische Landnutzung in den Bergen hat sich über Jahrhunderte kaum verändert: Schaf-und Ziegenhaltung bei den Tieren, fast ausschließlich zusammen mit kleinflächiger Landwirtschaft war das Übliche.

Aus Erzählungen von Einheimischen kann man sich ein gutes Bild über die noch bis vor wenigen Jahrzehnten betriebene Berg-Landwirtschaft machen: kleine, oft nur mehrere Quadratmeter großen Felder (im Prinzip Erdflächen zwischen Felsen) wurden von Frauen und Kindern mit der Hacke bearbeitet. Dabei waren die kleinsten Beete oft die besten.

Luftaufnahmen zeigen, dass entlang vieler der minoischen Ruinen Pflanzen besser gedeihen. Sie sind hierdurch oft als dunkle Linien in der helleren Landschaft zu erkennen und scheinen wirksam die Erosion verhindert zu haben. Damit wird klar: Die Minoer verbesserten mit ihren Mauern die Qualität der Felder - bis heute.

Zum Anbau eignet sich an Getreide fast nur Gerste (vgl. Abb.11) - sie ist am genügsamsten und vor allem zuerst erntereif [2] - an Bäumen Oliven, Mandeln (in den tieferen Lagen) und Birnen. Auf einigen Flächen (in der Nähe von Wasserstellen) war auch Weinbau möglich.

Spuren von minoischer Keramik auf bronzezeitlichen halbrunden Terrassenstufen - bis vor Kurzem in dieser Art für einzelne Bäume angelegt - legen die Vermutung nahe, dass hier mit Kompost/Mist (darin die Scherben als Abfall) Bäume gedüngt wurden.

Das Land von Milch und Honig

Herden der vorindustriellen Zeit bestanden bei den Berg-Bauern aus 30-80 Schafen und Ziegen (Kühe fanden nicht genug Futter). Den Gegebenheiten der vorhandenen Weidepflanzen angepasst – sie ernähren ein Schaf pro Hektar Land - wäre (unter ähnlichen Bedingungen) ein minoischer Siedler als Besitzer einer Herde von ca. 30 Schafen mit einem Umfeld von 3-4 km der Berghänge als Weideland ausgekommen und hätte gleichzeitig Landbau betreiben können .

Aber es gibt noch mehr Indizien für minoische Schäferei: Mauerreste im Umfeld vieler Bergruinen sehen den typischen Melkpferchen kretischer Schäfer sehr ähnlich (vgl. Abb. 9): Ein meist kleines, ummauertes Areal von ovaler oder rundlicher Form verhindert, dass Teile der Herde sich in die Ecken stellen und dann vom Hund beim Melken nicht herausgetrieben werden können. Scherbenfunde verraten ergänzend einen ungewöhnlichen Verschleiß von Dreifuß-Kesseln, bekannt als minoische Kochtöpfe. Das lässt vermuten, dass hier intensive Käseherstellung stattgefunden hat.

Bronzezeitliche Bienenstöcke bestanden in Kreta auch aus Keramik – ihre Scherben im Gelände beweisen, dass die Berg-Minoer vielseitig waren und schon vor viertausend Jahren wussten, wie geeignet diese Landschaft auch zur Bienenhaltung und Honigproduktion ist. In der griechischen Mythologie wird die Erfindung des Herdenwesens und der Bienenzucht den weisen Kureten, Götternachkommen und weisen Vorfahren aus dem Diktegebirge, zugeschrieben. Ob die Mythographen auch hier recht hatten?

Bronzezeitliches Kollektiv, Genossenschaft oder hörige Landarbeiter der Küsten-Elite?

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die Berg-Landschaft an den Hängen über Agios Nikolaos scheint in der Bronzezeit in ähnlicher Weise genutzt worden zu sein wie noch vor 50 Jahren.
T
rotzdem gibt es klare Unterschiede:

In jüngster Vergangenheit wurde das Gebiet aufgrund der üblichen halbjährlichen Wanderschäferei (Berge im Sommer, Küste im Winter) weitgehend nur im Sommer genutzt., Die bronzezeitlichen Gehöfte waren jedoch wohl ganzjährig bewohnt, denn die meisten (70%) zogen eine vor den kalten Winterwinden geschützte Lage vor. Bis vor kurzem wurden kleine Herden auf einem Weidegebiet (in Gemeindebesitz) ohne klare Grenzen und feste Wege durch die Schäfer kontrolliert, die auch die Verantwortung für den Schutz der Felder anderer hatten. Zur Zeit der minoischen alten Paläste waren dagegen eindeutig bestimmte Arbeitsbereiche und sorgfältig geplante Wege von hohem Vernetzungsgrad für die Schäfer-Bauern der Gegend wichtig und durch massive Mauern gekennzeichnet, die der Zuständigkeit der jeweiligen Nutzer klare Grenzen setzten und hoch genug waren, um Tiere aus- oder einzusperren.

Doch ewiger Frieden bei den minoischen Schäfer-Bauern der Bronzezeit?

Fest steht, dass Evans falsch lag mit seiner Vermutung, es handle sich um Bauwerke strategischer Natur: Für nur 2 der über 300 Stätten konnte eine wirklich verteidigungsfähige – also strategisch/militärisch nutzbare Position festgestellt werden, und keine der Ruinen weist oberflächlich Spuren kriegerischer Zerstörung auf. Wer oder was waren also die bronzezeitlichen Bewohner der massiven Gebäude in den Bergen über Agios Nikolaos wenn nicht Wächter?

Wahrscheinlich ist, dass die scheinbar hierarchielosen Nutzer der minoischen Gehöfte nicht deren Eigentümer, sondern nur ihre Bewirtschafter waren, in Abhängigkeit von oder Zusammenarbeit mit anderen, die nicht in der näheren Umgebung lebten. Dafür sprechen einige Einzelheiten:

  • Die Erschließung des ganzen Geländes fand offensichtlich gleichzeitig statt. Getreide-Überschuss wurde wahrscheinlich gespeichert, um ihn bei Gelegenheit abzutransportieren, denn es gibt keine Hinweise auf Getreideverarbeitung, aber Gehöfte mit Silo-ähnlichen Anlagen,
  • Große Mengen an Kochtopf-Scherben lassen auf eine beachtliche Käseproduktion schließen, denn die Häuser waren selten größer als für die üblicherweise angenommenen 5-köpfigen Familien/Arbeitsgruppen, es wurden also nicht extragroße Gruppen bekocht.
  • Wolle wurde wahrscheinlich gewonnen (Mauern für Tierhaltung), aber anderswo verarbeitet (keine Webgewichte oder Spinnwirtel unter den Funden). Funde von Wetzsteinen deuten auf die Verwendung von Metallklingen im Alltag hin (wahrscheinlich von der Elite zur Verfügung gestellt), während es kaum Hinweise auf die bei einfachen Minoern zu erwartenden Stein-Klingen gibt.

Im Ganzen betrachtet ist nirgendwo sichtbarer »Reichtum« festzustellen, keine hierarchischen Unterschiede zwischen individuellen Nachbarn mit weniger oder mehr Land, mit oder ohne erkennbaren Speichern. Alle Häuser der Umgebung scheinen in ähnlicher Weise von einfachen Menschen bewohnt gewesen zu sein, ländliche Gehöfte, die keinen Hinweis auf »Prestigekonsum« geben. Dies lässt vermuten, dass Überschuss-Produkte nicht im Besitz von Einzelnen blieben, sondern an anderer Stelle konsumiert wurden.

Alles deutet auf eine Art Vorläufer-System für die spätminoische »Villen«-Wirtschaft: Landwirtschaftliche Produkte wurden hier, im Hinterland, gesammelt und an die Elite der Küstenstädte weitergeleitet. Möglich wäre, dass die - vielleicht geistlichen - Herren ihre Bauern ideell, durch die massive Architektur der von ihnen bewohnten Gebäulichkeiten, an der »Standfestigkeit« und Verlässlichkeit ihrer Elite beteiligten.

Theoretisch wäre sogar eine Art kollektiver, »gemeinsamer« Nutzung des Landes von allen als Gruppe denkbar – die massive Bauweise als ein Ausdruck von Gruppenzugehörigkeit ließe sich auch dafür als Argument einsetzen. Allerdings wäre ein solcher frühgeschichtlicher »Ur-Sozialismus« mit geteilter Überproduktion ohne historische Parallele. Haben wir es hier womöglich mit der Steigerung des (utopischen) krieglosen minoischen Kreta zu tun? Mit der idealen, gerechten, standfesten Agrar-Gemeinschaft, frei von Besitzstreben?

Wohl kaum. Wahrscheinlich handelt es sich, wie gesagt, um das Hinterland einer oder mehrerer altpalastzeitlichen Küsten-Siedlungen. Die noch weitgehend unbekannte minoische Stadt beim heutigen Istron käme in Frage (Ausgrabung seit einigen Jahren im Gange). Die bisherigen Oberflächenbefunde lassen keine genauere Deutung zu.

Wir wissen, dass es in dieser Zeit durch den Seehandel und den wirtschaftlichen Aufschwung der Häfen zu neuem Wohlstand kam, und es ist es naheliegend, dass ein Teil davon in den Bergen investiert wurde, um die qualitätsvollen Produkte des kretischen Hinterlandes vermarkten zu können: Wolle, Käse, Fleisch, Holz, Kräuter [3], Honig. Ob die Drahtzieher weltlichen oder geistlichen Hintergrunds waren spielt dabei kaum eine Rolle.

Möglicherweise wurde die Region in der mittleren Bronzezeit ähnlich wie im Mittelalter und der frühen Neuzeit durch Seuchen entvölkert. Doch genauso ist es möglich, dass neue Autoritäten aus den durchaus nicht konfliktfreien Städten die Berg-Siedler zu anderen Orten oder Aufgaben schickten. Was uns bleibt ist zu wissen, dass hier für die Ewigkeit gebaut wurde – jenseits und weitab aller bekannten minoischen Paläste!

Literatur

Beckmann, S. (2012)
Domesticating Mountains in Middle Bronze Age Crete: Minoan Agricultural Landscaping in the Agios Nikolaos Region. Doktorarbeit, Universität Kreta. URL: http://phdtheses.ekt.gr/eadd/handle/10442/29129?locale=en

Beckmann, S. (2012 b)
Bronze Age Landscape and Resilience: 4.000 Years of Tradition? In: J. Kneisel, W. Kirleis, M. Dal Corso, N.Taylor and V. Tiedtke (eds.): Collapse or Continuity? Environment and Development of Bronze Age Human Landscapes. Proceedings of the International Workshop »Socio-Environmental Dynamics over the Last 12,000 Years: The Creation of Landscapes II (14th -- 18th March 2011)« in Kiel, Volume 1 Universitätsforschungen zur prähistorischen Archäologie 205. Bonn: Habelt.

Brown, A. 2001
Arthur Evans's Travels in Crete 1894-1899 , (BAR International Series 1000) Oxford. Darin: Der ganze Text von: Evans, A. und Myres, J.L., 1895. “A Mycenaean Military Road in Crete”( The Academy, No. 1204, June 1), S. 202-207.

Chaniotis, A. (1996)
Die kretischen Berge als Wirtschaftsraum. In: E. Olshausen - H. Sonnabend (eds.), Stuttgarter Kolloquium zur Historischen Geographie des Altertums 5, 1993, Gebirgsland als Lebensraum, Amsterdam: 255-266.

Evans, A., (1928)
The Palace of Minos at Knossos Vol. II,1. London: MacMillan.

Ivanovas, S. (2000)
Wo Zeus Mann wurde, bei den Schäfern vom Ida. Athen: Efstathiadis.

Küpper, Michael (1996)
Mykenische Architektur. Material, Bearbeitungstechnik, Konstruktion und Erscheinungsbild. Internationale Archäologie 25, Leidorf: Espelkamp.

Mantzourani, E., and G. Vavouranakis, (2005)
“Megalithic versus status: The architectural design and masonry of exceptional late Bronze Age I buildings in East Crete” MAA 5/2: 35-48.

Schlager, N. (2000)
Hogarth's Zakro Sealing No. 130: Phantasiegebilde oder realistische Stadtdarstellung? In: F. Blakolmer (ed.), Österreichische Forschungen zur Ägäischen Bronzezeit 1998. Akten der Tagung am Institut für Klassische Archäologie der Universität Wien 2.-3. Mai 1998. Wiener Forschungen zur Archäologie Vol. 3, Vienna: 69–81.

Sieber, F.W. (1823)
Reise nach der Insel Kreta im griechischen Archipelagus im Jahre 1817. Leipzig: Friedrich Fleischer.

Fussnoten
  1. Durch GIS (Geo-Informations-System) unterstützte Berechnung der bebaubaren Flächen.

  2. Das konnte anhand eigener Anbauversuche der Autorin bestätigt werden.

  3. Für die war Kreta während der Zeit des römischen Imperiums bekannt.

Auf minoischen Pfaden wandeln:

Der historische Landschaftspark Kroustas

2012 enstand in einem Teil der minoischen Berglandschaft der historische Landschaftspark Kroustas. Der Park liegt in einem seltenen Wald Ostkretas über dem munteren Dorf Kroustas bei Kritsa.

Wanderwege durch die bronzezeitliche Landschaft laden zum Entdecken der über die Berghänge verstreuten minoischen Stätten ein. Besucher können sich von der Größe der in den Ruinen verbauten Steinblöcke selbst ein Bild machen (wie in Abb.3 und 13) und dabei Ziegen, seltene Blumen und Vögel erforschen. Der offene Wald bietet hier und da atemberaubende Aussichten hinunter zur Küste - in jedem Fall einen Ausflug wert!
Der Eintritt ist frei!

www.kroustas-park.gr